Die Erfahrung aus Frankfurt mit Bürgerentscheiden

Gastbeitrag für das Buch “Was soll, was kann Demokratie. Erwartungen – Enttäuschungen – Hoffnungen” von Hans Peter Bull, Frankfurt Mai 2018.

Die Instrumente des Bürgerbegehrens und des Bürgerentscheids wurden in Hessen im Jahr 1993 im Rahmen einer Reform der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) eingeführt. In der Folge wurden allein in den ersten fünf Jahren rund 100 Bürgerbegehren eingeleitet. Diese führten zu 43 Bürgerentscheiden, von denen 23 erfolgreich im Sinne der Initiatoren waren. In 16 Fällen war die Initiative dadurch erfolgreich, dass die Gemeindevertretung das geforderte Ansinnen übernahm. Bis Ende 2017 wurden insgesamt 151 Bürgerentscheide in Hessen durchgeführt, von denen 75 erfolgreich waren und 42 an einer zu geringen Beteiligung scheiterten.

Ein völlig anderes Bild bot sich in Frankfurt, Hessens größter Stadt. Bis zum Jahr 2013 wurden zwar in zehn Fällen Unterschriften gesammelt, aber kein einziges Bürgerbegehren tatsächlich durchgeführt. Entweder hatte sich die Stadtpolitik des Themas durch Beschlüsse und Handlungen angenommen oder die Initiatoren bekamen nicht die notwendige Zahl an Unterschriften zusammen und stellten, meist klammheimlich, ihre Initiative wieder ein. Nicht selten war es allein die Ankündigung einer Unterschriftensammlung, die eine kommunalpolitische, medial verstärkte Resonanz hervorrief.

Erst im Jahr 2014 wurde ein Bürgerbegehren in Frankfurt gestartet, das auch zu einem Bürgerentscheid führen sollte. Anlass war die Entscheidung der Stadt Frankfurt, ein Grundstück in städtischem Eigentum, das bisher für Pferderennen, den dazugehörigen Wettbetrieb und als Golfplatz genutzt wurde, dem Deutschen Fußballbund (DFB) als Standort für eine nationale Fußballakademie anzubieten.

Der Pferderennsport hatte über Jahrzehnte einen dramatischen Niedergang erfahren. Die Zahl der Rennen hatte deutlich abgenommen, der Rennverein erfuhr mehrere Insolvenzen und konnte nur durch städtisches Engagement immer wieder reanimiert werden. Insgesamt hatte die Stadt hohe Summen in den Pferderennsport gesteckt, seit dem Jahr 2000 mehr als 9 Millionen Euro – durch Investitionen, eine Bürgschaft, Sportfördermittel, nicht beglichene Forderungen und Verzicht auf Pachteinnahmen, die dem Rennbetrieb zugutekamen.

Mit der Ansiedlung der Fußballakademie bot sich hingegen die Chance, eine Sporteinrichtung mit überragender bundesweiter Bedeutung in Frankfurt zu schaffen und damit auch die Stadt als Standort des DFB zu sichern. Außerdem sollte auf gut 18 Hektar ein naturnaher Bürgerpark entstehen. Zu diesem Zweck wurde durch Beschluss von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung ein Bebauungsplanverfahren eingeleitet. Gegen dieses Bebauungsplanverfahren richtete sich eine vom Rennverein getragene Bürgerinitiative.

In Hessen gilt ein zweistufiges Verfahren. Zuerst muss von den Initiatoren ein Antrag auf einen Bürgerentscheid gestellt werden, das Bürgerbegehren. Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, wie in dem vorliegenden Fall, so müssen innerhalb von acht Wochen Unterschriften von mindestens drei Prozent der bei der letzten Kommunalwahl wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner einer Gemeinde – in Frankfurt damals ca. 13.000 Personen – gesammelt werden. Bestimmte Angelegenheiten wie der städtische Haushalt oder die innere Organisation der Verwaltung dürfen nicht Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Richtet sich das Bürgerbegehren nicht gegen einen Beschluss der Stadt, gibt es auch keine Frist für die Unterschriftensammlung. Die Initiatoren können dann ohne jeglichen Zeitdruck über Wochen und Monate hinweg versuchen, die notwendige Unterstützung zusammen zubekommen.

Die Gegner der Fußballakademie schafften es, innerhalb der Frist 13.604 gültige Unterschriften zu sammeln. Dabei wurden bezahlte und auf Provisionsbasis arbeitende Unterschriftensammler stadtweit eingesetzt. In studentischen Jobbörsen wurde u.a. damit geworben, dass die erfolgreichsten Unterschriftensammler einen Hubschrauberrundflug über Frankfurt gewinnen konnten. Unterschriftswillige Bürgerinnen und Bürger erhielten teilweise Gutscheine für Sportwetten. Nach einhelliger Rechtsmeinung war damit allerdings nicht der Tatbestand der Wählerbestechung erfüllt (§ 108b Strafgesetzbuch) erfüllt, da es sich ja “nur” um eine Unterschriftensammlung und keinen hoheitlichen Wahlvorgang handelte. Allein auf diesem Weg wurden rund 10.000 Unterschriften gesammelt

Zeitungsrecherchen zufolge wurde die “professionelle” Unterschriftensammlung von einer Person mit Verbindungen ins Rotlicht- und Sportwettenmilieu organisiert, die auch als “Premierminister des Königreichs Atlantis” firmierte, einer fiktiven parlamentarischen Monarchie, die für 175 Euro Personalausweise und an ihre Bürger auch Führerscheine vergibt. Darüber hinaus gehörte der Mann der sogenannten “Reichsbürgerbewegung” an, welche die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat leugnet, und hatte ein umfassendes Vorstrafenregister.

Da die Stadtverordnetenversammlung an ihrem Beschluss zum Bebauungsplanverfahren festhielt und das Bürgerbegehren als zulässig befunden wurde, musste der Bürgerentscheid eingeleitet werden. Als Datum wurde der 21. Juni 2015 festgelegt. Das Bürgerbegehren wäre, nach der damaligen Fassung der HGO, dann erfolgreich gewesen, wenn 25 Prozent oder gut 124.000 Stimmberechtigte dem Anliegen der Initiatoren folgen würden.

Hier traten nun weitere Sachverhalte auf, die zumindest Fragen hinsichtlich der Ausgestaltung der Formen von direkter Demokratie in Hessen aufwerfen. So wird die Fragestellung durch die Initiatoren vorgegeben und darf nicht verändert werden. Die eingereichte, zu entscheidende Frage lautete: “Sind Sie dafür, dass der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 16.10.2014 über die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 916 – “DFB-Akademie – südlich Niederräder Landstraße” – aufgehoben wird und somit die Galopprennbahn erhalten bleibt?”. Der Wahlkampf wurde somit nicht nur über die Aufhebung des Aufstellungsbeschlusses für den Bebauungsplan geführt, sondern sachwidriger Weise auch über den vermeintlichen Betrieb und Unterhalt des Rennbetriebs, der ja von ganz anderen Voraussetzungen abhing.

In den nächsten Monaten folgte von Seiten der Initiatoren eine erstaunliche Wahlmaterialschlacht, deren Kosten Beobachter auf mehrere Hunderttausend Euro schätzten. Hier stellte sich nun die Frage, woher das ganze Geld kam, um diese Kampagne zu finanzieren? Während Parteien aus gutem Grund jede Einnahme dokumentieren und nachweisen müssen, unterliegen Initiatoren von Bürgerentscheiden in Hessen keinerlei Transparenzpflicht hinsichtlich ihrer Finanzierung. Dies macht nachdenklich. Erst aufgrund von öffentlichem Druck legten die Initiatoren teilgeschwärzte, lückenhafte Kontoauszüge vor, aus denen zumindest ersichtlich war, dass ein Großteil der dort verzeichneten Einnahmen nicht aus Frankfurt stammte.

Dies warf ein Schlaglicht darauf, dass beispielsweise Unternehmen, Lobbyverbände, Gruppen und Einzelpersonen finanzielle Mittel zur Verfügung stellen können, um auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, ohne dass dies vom Empfänger offengelegt werden muss. Wie werden, zum Beispiel bei Fragen der Rekommunalisierung oder Privatisierung von Stadtwerken, Krankenhäusern oder Verkehrsbetrieben, andere Marktteilnehmer mit dieser Möglichkeit umgehen?

Auch die relative Anonymität, aus der heraus die Initiatoren ihren Wahlkampf führten, brachte eine Unredlichkeit in der Auseinandersetzung mit sich, die ihresgleichen in der Frankfurter Kommunalpolitik suchte. Angebliche Subventionen der Stadt für den DFB in zweistelliger Millionenhöhe und andere Unwahrheiten wurden massenhaft plakatiert. Besonders anstößig war die Behauptung, das Rennbahngelände sei in der Zeit des Nationalsozialismus aus jüdischem Besitz enteignet worden. Die Stadt würde somit ihr “jüdisches Erbe” zerstören und ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht werden. Dass die Stadt seit dem Mittelalter ohne Unterbrechung im Besitz der Flächen war, scherte die Protagonisten wenig.

Am Ende verfehlten die Initiatoren das Quorum von 124.000 Stimmen deutlich. Nur die Hälfte der für einen Erfolg notwendigen Ja-Stimmen kamen zusammen, bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal knapp 21 Prozent. Da es aber noch weniger Nein-Stimmen gab, war dies der Anlass für die Initiatoren, öffentlich die Behauptung aufzustellen, man habe, entgegen der eindeutigen Rechtslage, die Abstimmung trotzdem gewonnen.

Wenn ein Bürgerentscheid gegen die Stadt ausgeht, ist diese gesetzlich verpflichtet, im Sinne des Bürgerentscheids tätig zu werden, und daran mindestens drei Jahre gebunden. Für private Initiatoren gibt es keinerlei Verpflichtung, ein solches Ergebnis anzuerkennen. Hier galt die Parole: Es war einen Versuch wert – und jetzt geht der Kampf trotzdem weiter. Es gab keinen Respekt vor einer demokratischen Entscheidung. Vielmehr wurde nun intensiv versucht, juristisch das Vorhaben hinauszuzögern. Die rechtliche Auseinandersetzung zog sich noch einmal über zwei Jahre hin. Im Jahr 2017 konnte die Stadt dann die wesentlichen Prozesse für sich entscheiden und gelangte wieder in den Besitz ihres Eigentums. Die damaligen Initiatoren haben derweil ein weiteres Bürgerbegehren angekündigt.

Zwischenzeitlich hat der Landesgesetzgeber eine erneute Reform der HGO durchgeführt und auch die Regularien für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide geändert. Leider fanden die Erkenntnisse über die Defizite im bisherigen System, die im Rahmen des ersten Frankfurter Bürgerentscheids gewonnen wurden, keine Beachtung.

Im Gegenteil, das Quorum wurde in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Für die letzte Kommunalwahl in Frankfurt 2016 gab es rund 502.000 Wahlberechtigte, von denen 39 Prozent (196.000) zur Wahl gegangen sind. Nach den neuen Regelungen der HGO können nun in Frankfurt 75.000 Wahlberechtigte durch ein Bürgerbegehren eine Mehrheit im Stadtparlament konterkarieren, die über 100.000 Wahlberechtigte hinter sich hat. Demokratietheoretisch ist dies zumindest problematisch.

Bei der Fragestellung eines Bürgerentscheids gibt es weiterhin kein Regulativ, und auch eine Rechenschafts- oder Transparenzpflicht hinsichtlich der Finanzierung wurde nicht eingeführt. Ganz anders in Hamburg, wo folgender Passus in das Gesetz zur Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den Bezirken aufgenommen wurde:

“Die Initiative hat die Pflicht, innerhalb von zwei Monaten nach Zustandekommen des Bürgerbegehrens über die Herkunft und zwei Monate nach dem Bürgerentscheid über die Herkunft und Verwendung der Mittel, die ihnen zum Zweck der Durchführung des Bürgerbegehrens und des Bürgerentscheids zugeflossen sind, gegenüber dem Bezirksamt Rechenschaft zu legen; der Bericht wird der Bezirksversammlung unverzüglich zugeleitet.”

Das Präsidium des Hessischen Städtetags kam zu dem Schluss, die Reform schwäche “die kommunale Demokratie und lädt zu Misstrauen gegenüber den gewählten Stadtverordneten ein”. Auch die Möglichkeit der Stadtverordnetenversammlung, ein Bürgerbegehren selbst einzuleiten, kann die Tendenz verstärken, unbequeme Entscheidungen zu delegieren.

Aber gerade die Trennung von Partikularinteressen und dem Wohl des Gemeinwesens sowie der damit verbundene, nicht immer einfache Abwägungsprozess können nur von den dafür demokratisch legitimierten Institutionen vorgenommen werden. Denn nicht nur die Interessen derer, die sich in einer Bürgerinitiative organisieren, sind zu berücksichtigen. Auch die Wählerinnen und Wähler, die bei einer Kommunalwahl ihre Stimme abgegeben haben, erwarten und vertrauen darauf, dass ihre Belange durch Magistrat und Stadtverordnetenversammlung vertreten werden.

Instrumente der unmittelbaren Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an kommunalpolitischen Fragestellungen sind ohne Frage eine sinnvolle Ergänzung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Sie können Verständnis und Akzeptanz bei allen Beteiligten befördern. Sie können neue Ideen hervorbringen und bestehende Planungen verbessern. Aber sie müssen nach klaren, verbindlichen Regeln ablaufen, sie dürfen keine Alibifunktion haben – weder gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern noch von Seiten der Mandatsträger, die sich eventuell einer unliebsamen Entscheidung entziehen wollen. Und sie dürfen nicht die parlamentarische repräsentative Demokratie und die Verantwortung, die die Wählerinnen und Wählern delegiert haben, in Abrede stellen. In Hessen müssten dafür noch einige Webfehler im bestehenden System der Kommunalverfassung beseitigt werden.

Olaf_Cunitz_Direkte_Demokratie_mit_Webfehlern