Erschienen in polis – Magazin für Urban Development, Sonderausgabe 3/2018 (PDF)

Urbanisierung & Landflucht – Zwei Seiten der gleichen Medaille

“Heute ist die ganze Welt im Begriff, Stadt zu werden”, schrieb Lewis Mumford in seinem 1961 veröffentlichten Standardwerk über die Geschichte der Stadt. Die starke Urbanisierung der letzten Dekade, geht dabei in Deutschland mit nicht minder starken Veränderungen in den ländlichen Räumen einher. Beides muss zusammen betrachtet und gedacht werden.

Im ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts ist die Urbanisierung einer der bestimmenden globalen Megatrends, deren Auswirkung in erheblichem Maße auch die Gesamtentwicklung in Deutschland prägt. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland in Großstädten leben, ist von rund 23,6 Millionen im Jahr 1960 auf etwa 26,2 Millionen im Jahr 2016 gestiegen, was einem Zuwachs von gut 11 Prozent entspricht.

Diese Entwicklung verlief aber in Deutschland nicht linear oder kontinuierlich. Erst in den letzten 10 Jahren haben die Bevölkerungszuwächse in den Kernstädten der deutschen Metropolregionen wieder stark zugenommen. Eine deutliche Re-Urbanisierung setzte ein, primär von der ökonomischen Anziehungskraft der Metropolen verursacht. Aber auch gesellschaftliche Veränderungen, wie die gestiegene Frauenerwerbsquote und beispielhaft die damit verbundene Nachfrage, nach räumlich nahegelegener Kinderbetreuung haben ihren Anteil.

Die Folgen sind allseits bekannt: Mieten und Immobilienpreise in den Städten steigen, trotz hoher Fertigstellungszahlen von Wohnungen. Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage öffnet sich weiter. Der größte und entscheidende Engpass ist dabei die Verfügbarkeit von Bauland. Dieser Mangel liegt häufig im politischen Versäumnis, Flächenentwicklungen konsequent und zügig voranzutreiben. Erst der Mangel an Flächen, macht das Geschäft mit Grundstücken immer profitabler und führt zu Auswüchsen am Markt.

Der wachsende Druck in den Kernstädten führt zu einer Vielzahl von Veränderungen. Es erfolgt Stadtreparatur, denn Bautätigkeit findet nun an Orten statt, die über lange Jahre, als nicht rentabel entwickelbar erschienen. Aber auch Verdrängungsprozesse haben begonnen, mit der Folge einer drohenden sozialen Entmischung von Quartieren. Auch die Flächenkonkurrenz zwischen Wohnen, Gewerbe und Infrastruktur verschärft sich.

In den letzten zwei, drei Jahren lässt sich auch deutlich beobachten, wie der hohe Preisdruck in den Kernstädten, zu einem Ausweichen derer, die eine Eigentumswohnung oder ein Einfamilienhaus erwerben möchten, in das unmittelbare Umland führt. Eine neue Welle der Suburbanisierung setzt ein. Dies resultiert, aufgrund des Nachholeffekts, in teilweise höheren Preissteigerungen, als in den Kernstädten selber. Allerdings noch immer auf einem meist deutlich niedrigeren Gesamtniveau.

In großen Teilen der ländlichen Räume bietet sich ein anderes Bild. Viele Landkreise haben mit sinkenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen. Dort kommen Überalterung und eine Landflucht der Jungen zusammen. So entsteht die paradoxe Situation, dass in den Großstädten eine Millionen Wohnungen fehlen und im ländlichen Raum zwei Millionen Wohnungen leer stehen.

Aufgrund aktueller Untersuchungen wissen wir, dass bundesweit nur 14 Prozent der Berufspendler den öffentlichen Personenverkehr benutzen. Diese Zahl zeigt auf dramatische Weise, wie unzureichend die ländlichen Räume mit den Kernstädten verknüpft sind. Bei 360.000 Einpendlern jeden Tag allein nach Frankfurt, zeigt sich, in welcher Größenordnung negative Folgewirkungen durch Staus, Unfälle und Abgase entstehen. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, insbesondere der leistungsfähigen Schiene, ist somit eine entscheidende Stellschraube.

Ein weiteres zentrales Thema ist die Digitalisierung. So wie Strom, Wasser und Straße für die Versorgung eines Haushaltes selbstverständlich sind, muss dies auch für den Breitband-Internetzugang in den ländlichen Räumen gelten. Nicht weniger dringlich ist dies auch unter dem Aspekt, die regionale Wirtschaft in den ländlichen Räumen zu stärken. Arbeitsplätze können nur gehalten oder ausgebaut werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wahrscheinlich bedarf es einer noch viel stärkeren, tiefgreifenden Veränderung unserer Arbeitswelt, um Wertschöpfung zu dezentralisieren und mehr Impulse für Wachstum jenseits der Metropolen zu geben.

Und für die Organisation von Privat- und Arbeitsleben ist das Vorhandensein sozialer Infrastruktur von elementarer Bedeutung. Kinderbetreuung, Schulangebote und Ärzteversorgung seien hier stellvertretend genannt. Nicht alles muss in allen Dörfern und Gemeinden vorhanden sein. Hier gilt es Ankerstädte in den ländlichen Räumen zu identifizieren und zu stärken.
Weder die kompakte Stadt, noch die dezentrale Stadtregion sind die alleinige Antwort, sondern müssen gemeinsam gedacht und entwickelt werden. Mit den ländlichen Räumen eng vernetzte Metropolen sind der Weg, um Wachstum und Zusammenleben zukunftsfähig zu organisieren.

Olaf Cunitz
studierte Mittlere und Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Von 2012 an, war er Bürgermeister und Dezernent für Planen, Bauen und Wohnen der Stadt Frankfurt am Main. Seit Ende 2016 leitet er den Bereich Bauland- und Projektentwicklung der DSK Deutsche Stadt- und Grundstücksentwicklungsgesellschaft, einem bundesweit tätigen Stadtentwicklungsunternehmen mit Sitz in Wiesbaden. Er ist Vorsitzender des Advisory Boards des ULI Germany.